Moderner Bauchdeckenverschluss – Inzidenz und Prävention von Narbenhernien

Die Inzidenz von Narbenhernien nach einer Mittellinienlaparotomie ist mit 15–20%1,2 hoch. Jährlich werden demnach in Deutschland etwa 50.000 Narbenhernien operiert. „Da muss man sich fragen warum und wie kann man es verbessern?“, forderte Prof. T. Hackert, Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie des Universitätsklinikums Heidelberg als Vorsitzender eines von Baxter Deutschland GmbH unterstützten Symposium beim 134. Deutschen Chirurgenkongresses in München. Ziel des Symposiums war es, Ursachen, therapeutische Empfehlungen und Präventionsmöglichkeiten von Narbenhernien darzustellen und anschließend mit den Experten zu diskutieren.

„Seit 100 Jahren schaffen wir es nicht, die biomechanischen Verhältnisse an der Bauchwand so zu begreifen, dass wir Narbenhernien verstehen und rezidivfrei reparieren können“, sagte Prof. U. Klinge, Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie des Universitätsklinikums Aachen und Vorsitzender des Symposiums. Dabei sei in Modellen unter statischen Bedingungen alles klar: Die optimale Netzgröße ist zweimal der Defektdurchmesser plus 25 mm, also sei bei einer 5 cm großen Hernie mit einem 12,5 cm Netz eine 100%ige Versorgungssicherheit zu erreichen, erläuterte Prof. F. Kallinowski, Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie des Kreiskrankenhauses Bergstraße, Heppenheim, in seinem Vortrag. Das entspräche aber nicht der klinischen Realität, denn die Bauchwand, und damit auch eine operierte Narbenhernie, sind dynamischen Belastungen wie beispielsweise Hustenstößen in der postoperativen Phase ausgesetzt. „Die Frage, die wir uns stellen, ist ob diese fehlende Stabilität, die auftritt, bereits die Vorbereitung des Rezidivbruchs ist“, so Kallinowski. Anhand von einem zylindrischen sog. Hustenstoßmodell könne man zeigen, dass rezidivierende Hustenstöße die eingebrachte Netzversorgung ausreißen können. Tests zeigten, dass bei reduzierter Netzüberlappung die Versorgungen instabil werden und eine zusätzliche Fixation unterschiedlichen Ausmaßes benötigen. Um die Stabilität einer Netzversorgung besser vorherseh- und damit planbar zu machen, wurde von Kallinowski das GRIP-Konzept in die Hernienversorgung eingebracht. Der GRIP beschreibe die Haftreibung zwischen einer sich bewegenden und einer statischen Fläche. Die Haftreibung der Netzversorgung am Umgebungsgewebe hält letztendlich das Netz in Position bis die Einheilung erfolgt ist. Tulloh und de Beaux haben 20163 beschrieben, dass aus dem Verhältnis der Netzfläche zur Defektfläche eine dimensionslose Maßzahl errechnet werden kann, die als Anhaltspunkt für die Haftreibung einer Versorgung verwendet werden kann. „Eine Maßzahl von 16 und darüber charakterisiert dabei eine sichere Hernienversorgung“, so Kallinowski.
Auf dieser Grundlage können mittels des Hustenstoßmodells unter Einbezug der Netz-, Defekt- und Fixationsfläche verschiedene Hernienversorgungen auf ihre Stabilität hin untersucht und Maßzahlen für den GRIP ermittelt werden. Mit Hilfe der Maßzahlen können beispielsweise Hernienversorgungen präoperativ geplant werden. „Der Chirurg entscheidet nach wie vor was gemacht wird, aber auf rationaler Grundlage. Wir brauchen 10, vielleicht 15, 20 Maßzahlen, um in Zukunft eine bessere Versorgung darstellen zu können“, schlussfolgerte Kallinowski.

Die Realität der chirurgischen Narbenhernienversorgung stellte Prof. F. Köckerling, Klinik für Viszeral- und Gefäßchirurgie des Vivantes Klinikum Spandau, Berlin, dar. Basierend auf den heutigen Daten, hätten laparoskopische Narbenhernienreparationen, verglichen mit offenen, Vorteile bezüglich der Wundinfektionsrate, ohne dass dabei die Rezidivrate oder die Krankenhausverweildauer erhöht würde. Soweit ein erfahrener Operateur und entsprechendes Equipment zur Verfügung stünden, stellten laparoskopische Versorgungen eine sinnvolle Alternative zur offenen Reparation dar. Die Grenzen liegen nach den Empfehlungen4 eher bei den größeren Defekten über 8–10 cm. „Als Contra gelten Rezidiveingriffe und inkarzerierte Hernien, was ich nicht unbedingt so teilen kann“, so Köckerling. Erstmals wurden 2016 auch Langzeitdaten zu Netzkomplikationen aus einem dänischen Hernienregister publiziert5. „Sehr interessant finde ich, dass beim laparoskopischen IPOM nur in 3,6% der Fälle Netzkomplikationen auftraten, bei den offenen Verfahren in 5,6%. Das hätte man eigentlich aufgrund der intraperitonealen Netzlage beim IPOM umgekehrt erwartet“, kommentierte Köckerling.
Im deutschen Herniamed-Register sind laut Köckerling derzeit 44.000 Narbenhernien dokumentiert. Der Altersgipfel der Patienten sei darin mit 70–80 Jahren hoch. Etwa 35% der Patienten seien der ASA-Klassifikation 3 und 4 zuzuordnen, was zeige, dass diese Patienten häufig auch anästhesiologisch anspruchsvoll sind und intensivmedizinsche Betreuung benötigen. Betrachte man die EHS-Klassifikation, treten am häufigsten Narbenhernien mit einer Defektbreite von 4–10 cm auf. Diese könne man gut mit einem standardisierten Verfahren wie dem laparoskopischen IPOM oder einer Sublay-Operation reparieren. Beide Verfahren würden heutzutage auch mit jeweils 30% am häufigsten durchgeführt. Postoperative Komplikationen träten in 9% der Fälle auf, was zeigt, dass Narbenhernienreparationen keine einfachen Eingriffe sind. Am häufigsten seien Serome (3,5%) zu finden und auch Wundheilungsstörungen, vor allem bei den offenen Verfahren (2,4%). In insgesamt 4% müsse mit Reoperationen aufgrund von Komplikationen gerechnet werden, „auch eine relevante Größenordnung“, meinte Köckerling. Aufgrund der Altersverteilung der Patienten seien auch allgemeine Komplikationen nicht zu vernachlässigen. „Mein Credo ist, dass Narbenhernienchirurgie anspruchsvolle Chirurgie ist und neben dem versierten Chirurgen, auch eine versierte Anästhesie und Intensivmedizin erfordert“, postuliert Köckerling. „Wiederum hat das wenig invasive laparoskopische IPOM die geringste allgemeine Komplikationsrate, während alle anderen hier doch deutlich mehr Probleme haben.“ Im 1-Jahres-Follow-up fielen hohe Schmerzraten auf, sowohl in Ruhe (10%) als auch unter Belastung (20%). Behandlungsbedürftige chronische Schmerzen würden von 7% der Patienten noch nach einem Jahr angegeben. „Das ist für uns kein befriedigendes Ergebnis“, kommentierte Köckerling. Die Rezidivrate läge im 1-Jahres-Follow-up bei 6,2%. Aus einer publizierten Herniamed-Analyse6 sei allerdings bekannt, dass Rezidive bis zu 10 Jahre nach der Primäroperation auftreten können. So läge die Rezidivrate nach 5–10 Jahren bei 20–30% und stimme mit den Registerdaten überein, die einen Anteil an Rezidiveingriffen von 20% zeigten. „So dass wir unsere Bemühungen noch nicht einstellen können, besser zu werden und Fortschritte zu realisieren“, postulierte Köckerling am Ende seines Vortrags.

Prof. D. Berger, Klinik für Viszeral-, Thorax- und Kinderchirurgie am Klinikum Mittelbaden, Baden-Baden, erörterte im Folgenden die Möglichkeiten und Grenzen der laparoskopischen Hernienreparation. Laut Berger hat die laparoskopische Technik einen klaren Stellenwert in der Narbenhernienchirurgie, wichtig sei allerdings eine überlegte Indikationsstellung. Grundsätzlich plädiert er für eine Netz-basierte Reparation mit Abdeckung und breiter Überlappung der Narbe, was beim laparoskopischen Zugang fern der ursprünglichen Narbe problemlos möglich sei. Wichtig sei des Weiteren, dass die Adhäsiolyse ohne Energieträger gemacht werde, um Enterotomien zu vermeiden.
Die Vorteile der Laparoskopie lägen in der niedrigeren Gesamt- und Wundkomplikationsrate verglichen mit den offenen Verfahren. „Hierzu gibt es heute aktuelle Daten aus Registern mit guter und kontrollierter Datenqualität“, sagte Berger. Die angeblich hohe Rate an Darmläsionen zeige sich in den Studiendaten nicht einheitlich. „ Da gibt es viele Arbeiten, die Rate ist mal höher, mal weniger hoch und gleich hoch wie bei der offenen Chirurgie“, erläuterte Berger. Dass es Adhäsionen zwischen den intraperitonealen Netzen und den Eingeweiden gibt, steht für Berger außer Frage. „Allerdings gibt es dazu keine hochwertigen Daten, die darstellen würden, dass diese Adhäsionen ein Problem sind“, kommentierte er.
Wichtig ist für ihn, ob die Patienten von einer Narbenhernienreparation überhaupt profitieren. Aktuelle Daten aus einer skandinavischen Studie7 zeigen, dass die Lebensqualität bei Patienten nach Narbenhernienoperation besser ist, als wenn man sie nicht operiert. Dabei gebe es keinen Unterschied zwischen einem offenen oder laparoskopischen Verfahren. Chronische Schmerzen traten in der operierten Gruppe in etwa 11% der Fälle auf, in der nicht-operierten in knapp 35%. „Das ist ein signifikanter Unterschied“, so Berger. Am unglücklichsten seien laut der Studie die Patienten, die nach Operation ein Rezidiv bekommen. „Es ist demnach das höchste Ziel, das Rezidiv zu verhindern“, forderte Berger. „Man schadet dem Patienten enorm mit dem Rezidiv.“
Es sei weiterhin ungeklärt, ob ein laparoskopischer Bruchpfortenverschluss empfehlenswert ist. Daten einer Metaanalyse aus 20168 unter Einbezug aller verfügbaren Studien zeigen bezüglich Serom-, Bulging-, Rezidiv- und Schmerzrate keinen Vorteil des Bruchpfortenverschlusses für den Patienten. Allerdings seien die einbezogenen Studien so heterogen, dass man eine Metaanalyse eigentlich gar nicht hätte machen dürfen. „Ich bin der festen Überzeugung, dass wenn wir uns weiter mit der Hernie beschäftigen wollen, wir hochwertige Daten benötigen, um überhaupt adäquat diskutieren zu können“, schloss Berger seinen Vortrag.

„Wo die Therapie an ihre Grenzen stößt, brauchen wir Prävention“, leitete Klinge zu Prof. F. Fortelny, Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Tumorchirurgie des Wilhelminenspitals, Wien, über. „Auch in der Prävention von Narbenhernien gibt es viele offene Fragen“, eröffnete Fortelny sein Thema. Noch immer würden in Deutschland und Österreich 60% der kolorektalen Operationen offen mit einer Mittellinienlaparotomie durchgeführt. Die Inzidenzraten für eine Narbenhernie variieren je nach Art des Mittellinienverschlusses und liegen zwischen 15–20%1,2. Aus einer Publikation aus den USA von 20169 sei bekannt, dass die Kosten für die chirurgische Behandlung von Narbenhernien sehr hoch seien. „Dabei entwickelten die Hochriskiopatienten signifikant häufiger eine Narbenhernie als Patienten mit niedrigem Risiko“, erläuterte Fortelny. Um Narbenhernien vorzubeugen, solle der Mittellinienverschluss in der „small bite“-Technik mittels einer 5:1 Faden-Inzisionslängen-Ratio und einem monofilen, spät resorbierbaren und elastischen Nahtmaterial erfolgen. Nach heutiger Studienlage sollten Risikopatienten, speziell adipöse (BMI über 27) und mit einem abdominellen Aortenaneurysma („AAA“), ein prophylaktisches Netz zur Senkung des Narbenhernienrisikos bekommen. In der PRIMAAT-Studie10, lag die Inzidenz von Narbenhernien bei AAA-Patienten nach zwei Jahren ohne Netzeinlage bei 28% versus 0% nach Netzeinlage. Netzassoziierte Komplikationen wurden keine beobachtet. Für den Bauchwandverschluss mit Sublay-Netz wurde ein zeitlicher Mehraufwand von 16 Minuten benötigt. In der PRIMA-Studie11,12 konnte gezeigt werden, dass für die prophylaktische Netzverstärkung Onlay die beste Position ist. „Zwar war die Serominzidenz in der Onlay-Gruppe höher als nach Naht alleine und Sublay, allerdings haben die Serome keinen höheren Morbiditätscharakter gehabt“, berichtete Fortelny. Zudem erfordere diese Technik keine Expertise in der Bauchwandchirurgie. „Die 2-Jahres-Ergebnisse der PRIMA-Studie wurden zur Publikation im LANCET akzeptiert und werden demnächst erscheinen“, gab Fortelny am Ende des Symposiums den interessierten Zuhörern mit auf den Weg.

 

Literatur
1 Milbourn et al., 2009; Arch Surg. 144(11):1056-9
2 Deerenberg et al., 2015; Lancet 386(10000):1254-60
3 Tulloh et al., 2016; Hernia DOI 10.1007/s10029-016-1524-4
4 Earle et al., 2016; Surg Endoscop online first
5 Kokotovic et al., 2016; JAMA 316:1575-1582
6 Köckerling et al., 2015; Front Surg 2:24
7 Langenbach et al., 2017; Surg.Endosc. 30:5023-5033
8 Suwa et al., 2016; Surg. Today 46:764-773
9 Fischer et al., 2016; Ann Surg 263(5):1010-7
10 Muysoms et al., 2016; Ann Surg. 263(4):638-45
11 Nieuwenhuizen et al., 2013; BMC Surg. 28:13:48
12 Timmermans et al., 2015; Ann Surg. 261(2):276-81